Ein Land geht in den Westen - Eine Lesereise durchs halbe Land

Bücher

„Moskauer Eis”, Annett Gröschner


Moskauer Eis von Annett Gröschner

Die sechsundzwanzigjährige Annja Kobe wird im Winter 1991 in ihre Heimatstadt Magdeburg gerufen, weil ihre Großmutter im Sterben liegt. Ihr Vater, der sich um seine Mutter kümmern sollte, ist verschwunden. Als Annja in die Wohnung ihres Vaters in einem Hochhaus auf einer Insel mitten in der Elbe geht, findet sie ihn schließlich tiefgefroren in seiner eigenen Kühltruhe. Als Mitglied einer Familie von manischen Gefrierforschern, schon ihr Großvater war Kälteingenieur, ist sie zwar erschrocken, ihren Vater in gefrorenem Zustand zu finden, aber eigentlich nicht besonders verwundert darüber. Das Überraschende aber ist, daß die Truhe an keine Steckdose angeschlossen ist. In der eiskalten Wohnung ihrer Großmutter und der Kühltruhe mit dem gefrorenen Vater in der Küche, sucht sie bis zum Tod ihrer geistig verwirrten Großmutter nach den Hintergründen dieses Gefriervorganges, den sie sich wissenschaftlich nicht erklären kann. Die einzige mögliche Zeugin, die Kollegin des Vaters, Luise Gladbeck, ist wenige Tage zuvor gestorben. Die Suche wird zu einer Reise in die Geschichte der Familie Kobe, in der die Begeisterung rund um den Gefrierpunkt über drei Generationen vererbt worden ist. Der Großvater Paul Kobe, seit den zwanziger Jahren mit der Kühltechnik befaßt, stolpert als Direktor eines von der Roten Armee verwalteten Kühlhauses in Erfurt Ende der vierziger Jahre über seine vielen Affären mit Sekretärinnen, die ihn zu Kompensationsgeschäften zwangen. Er wird von der sowjetischen Militäradministration nach Berlin befohlen, um die Schwundverluste beim Gefrieren von Schweinefleisch zu untersuchen. Zum Dank erhält er ein Institut in Magdeburg, das sich mit der Forschung und Entwicklung von gefrorenen Lebensmitteln beschäftigt. Die sechziger Jahre sind die Zeit der großen Experimente zum Wohle des Sozialismus. Man möchte die Bevölkerung mit Tiefkühlkost beglücken und schickt Kosmonauten mit vakuumgefriergetrockneter Nahrung in den Weltraum. Spätestens mit dem Scheitern der Neuen ökonomischen Politik ist die Zeit der Experimente vorbei. Der Großvater geht in Rente und stirbt im Beisein einer Prostituierten in einem Hotel in Warnemünde, nachdem er noch einmal alle seine Kühlhäuser in der DDR besucht hat. Der Onkel Annja Kobes ist beim Versuch, in einem Kühltransport in den Westen zu gelangen, umgekommen. Die Mutter ist unglücklich. Der Kniefall ihres Mannes am 13. August 1961 auf dem Magdeburger Hauptbahnhof, mit dem er sie bat, sie zu heiraten, hatte ihre Flucht in den Westen verhindert. Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Nun lebt sie an der Seite eines kälte- und sportfanatischen Mannes, der die eigentümliche Angewohnheit hat, die DDR zu lieben und ihre führende Partei zu hassen und der als Abgeordneter der Bauernpartei bei Wahlen mit fliegenden Urnen über die Insel läuft, um noch die letzten Stimmen für die Kandidaten der Nationalen Front einzutreiben. Schließlich bekommt ihr Mann, der seit dem Bau der Mauer im Kälteinstitut seines Vaters beschäftigt ist, Ende der siebziger Jahre die Aufgabe, die Bevölkerung mit wissenschaftlich einwandfreier Eiskrem zu versorgen, einer Aufgabe, der er sich bis spät in die Nacht widmet und die nicht mehr die einst versprochenen Dienstreisen ins westliche Ausland bringt, sondern ihn dazu zwingt, mit Thermometern in der Tasche Einkaufen zu gehen, um die Verkäuferinnen nachzuweisen, daß sie mit den Tiefkühlprodukten nicht sorgsam genug umgehen, denn die Kühltruhen haben nie die erforderliche Temperatur von –18 Grad Celsius. Denn die Wissenschaft ist das eine, die Praxis das andere, in der DDR sind Importe für Eiskrem streng verboten, mal gibt es keine Butter, mal keine Früchte, selten die richtige Verpackung und bald keine Fahrzeuge mehr. Über den verzweifelten Versuch, den Mangel zu beherrschen, verliert der Vater erst seine Frau und schließlich auch seine Tochter, die mit den herrschenden Verhältnissen in der Stadt zunehmend weniger klarkommt und nach dem Abitur nach Berlin geht und dort auf dem Alexanderplatz das vom Vater entwickelte "Moskauer Eis" verkauft. Später stellt sie es als Arbeiterin in der Eiskremfabrik selbst her und verliert dabei alle Illusionen, daß sich in diesem Land noch irgendetwas verändern könnte. Mit Beendigung des Kalten Krieges glaubt ihr Vater nun endlich den Traum von der idealen Eiskrem in die Praxis umsetzen zu können, aber er muß erfahren, daß er nicht mehr gebraucht wird. Zuletzt wird er von der Treuhand als Direktor der Abwicklung seines eigenen Betriebes ernannt, bis nichts als ein Schlüssel und ein leeres Gebäude übrig bleibt, in das die Heldin am Ende in einer traumhaften Szene noch einmal zurückkehrt und dort die Belegschaft des Institutes vorfindet, das sich für einen Start in den Weltraum vorbereitet, wo sie mit Hilfe der Vakuumgefriertrocknung störungsfrei den Sozialismus vollenden will. Am Ende der Geschichte stirbt die Großmutter. Wohin aber mit dem gefrorenen Vater? Ein Polizeibericht im Anhang des Buches klärt darüber auf, daß die Heldin mit ihrem gefrorenen Vater nach Berlin zurückgekehrt ist. Nach der Entmietung des Hauses ist sie über Nacht mit dem Vater verschwunden. Zurück bleibt die Kühltruhe.

Ein in ironischem Ton geschriebenes Buch über eine Insel in der Elbe voller skurriler Leute, einen zurückgezogenen Nationalpreis, die Hauptsätze der Thermodynamik, Alpträume, Gefrierfleischverluste, Sportfanatiker, Sekretärinnen, eine Kühltruhe, die auch nach dreißig Jahren noch funktioniert und mehr als zehn Kugeln Eiskrem.