Ein Land geht in den Westen - Eine Lesereise durchs halbe Land

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„Merkliche Veränderung”, Michael Mäde


Merkliche Veränderung von Michael Mäde

Allein die Träume

Keiner hat ihm was getan, allein "Es sind unsere Träume, die uns ermorden". Da klagt einer nicht die Wirklichkeit an, sondern die eigenen Träume. Da tippt sich einer ein ums andere Mal an die Stirn, wie man so weit gehen konnte mit der Vision von einer besseren Welt. Er darf das. Denn er ist ein radikaler Träumer.

Michael Mäde, Jahrgang 1962, legt hier seinen ersten Gedichtband vor und zieht Bilanz. Nicht etwa die eine gültige, die letzte oder erste: Er hat es immer wieder getan, all die Jahre. In der Liebe, in der Weltgeschichte. Da fragt einer, weniger die anderen, sondern mehr im Gespräch mit sich selbst: Was ist geschehen? Wo bin ich? Wo sind wir? Und: Wo werden wir sein?

In der DDR geboren und aufgewachsen, hatte Mäde schon früh eine intensive mediale Beziehung zu einer Welt, die er auch hochgradig als seine ansah als er sie größtenteils nicht bereisen konnte. Die Niederlage von Menschen, die mit politischen Konzepten und Systemen im 20. Jahrhundert eine bessere Welt wollten (zu denen er sich zählt), trifft ihn persönlich, die Erde wird von ihm als zusammenhängendes Ereignis wahrgenommen. Dieses enorm Politische in den Gedichten von Michael Mäde hat nichts Plakatives, sondern überzeugt als Auslöser tiefer Gefühle. Präsident Allendes letzte zusammengeschossene Kaserne ist auch seine eigene ("Schwester"). Politische und Alltags-Sensibilität sind bei Michael Mäde aus demselben Stoff gemacht: Empörung über die Diskriminierung eines Mannes im Supermarkt führt geradewegs in die Emigration (Deutschland 1997).

Mäde holt Bilder und Bezug auch aus illustrer geistiger Verwandschaft, zitiert ironisch oder liebevoll oder beides, aber immer treffend. So gerät der Schutzengel von Christoph Meckel bei Mäde ins Schwitzen (Deutschland 1997) oder Dustin Hoffmans rhetorischer Slapstick aus "Tootsie" wird widerlegt ("Küste ist nicht gleich Küste" in Umwege). Oder da verpaßt Mäde dem Land DDR die todtraurige Ironie eines Jurek Becker, kam es doch AUF DENKBAR SCHWERSTE WEISE ZU SCHADEN ("Niemand"). Den selbst von Klarsicht gebeutelten Dichter des deutschen Wintermärchens, Heinrich Heine, übertrifft Mäde, mit der Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts beschwert, allerdings noch an Trauer: wollte Heine dem häßlichen Vogel, dem deutschen Reichsadler, noch bei passender Gelegenheit die Federn rupfen und Krallen abhacken, ist bei Mäde diese Gelegenheit schon verpaßt ("9. November"). Oder James Baldwin, der schwarze Rebell aus New York, im Koffer ("Ich dichte").

Aus aller Welt und vielen Zeiten empfängt Michael Mäde Signale und hebt sie in den eigenen Texten auf zu neuen Zusammenhängen.

Reich an sinnlichen Details und atmosphärisch genau sind die Kindheitsbilder, unübersehbar die starke emotionale Bindung, die sich durch den Band zieht. Aus Verwandtschaftsbezeichnungen werden magische Wörter: Mutter, Vater, Schwester.

Michael Mäde schlägt mit seinen Gedichten einen biographischen Bogen von 1986 bis 1999, da dokumentiert der gebürtige DDR-Bürger mit Gedichten bis 1989 die damaligen Verhältnisse, da beschreibt ein von ober einverleibter Deutschland-Bewohner, was seither mit ihm geschehen ist. Zum elften Jahrestag des Falls der bekanntesten Staatsgrenze des 20. Jahrhunderts erscheint hier eine der möglichen Bestandsaufnahmen.

Dabei bleibt das Wir ein Wir mit Zweifeln, aber ein Wir. Das ist auffällig, die Vereinzelung ist vielleicht nur scheinbar und vielleicht auch nur die andere Seite dessen, was mit uns allen geschieht.

Auf verblüffende Weise verknüpft Mäde seine Haltung in bezug auf seine politischen Träume mit denen der Liebe: Es ist nicht eigentlich die Geliebte, die ihn enttäuscht, sondern es sind die Träume, die die Wirklichkeit überforderten. Das Ende einer Liebe ist nicht das Ende eines Landes und umgekehrt, aber wenn beides zusammentrifft, ergibt das poetischen Stoff, den der Dichter Mäde sich nicht entgehen läßt ("Es war tatsächlich dann Sommer"). Liebe bedeutet Mäde Festung, eine zerbrechliche möglicherweise, aber Kraftquelle für die Kämpfe da draußen, ein Universum privater Absolutheiten.

Ironie funktioniert in Michael Mädes Gedichten als willkommene Selbst- und andere Distanz, manchmal auch wie ein Schutz gegen die Aufgabe des eigenen Ichs. Doch ist hier einer, der sich gar nicht richtig aufgeben kann. So verlockend es manchmal ist, wie damals, mit der MAKAROW an der Schläfe, Mäde kann das einfach nicht.

Nichts schmerzt mehr und ich geh, schreibt er am Ende einer Liebe.

Alles schmerzt noch und er geht nicht.

Angelika Nguyen